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Ein Gedächtnis wie ein Schweizer Käse

Heute war mal wieder einer dieser Momente. Ein Freund meiner Eltern, seines Zeichens Ex-Lehrer an meiner Ex-Schule, erzählte fröhlich, er ginge demnächst wandern, und zwar mit Herrn Schreiner. Erwartungsvolle Blicke in meine Richtung. Fragende Blicke in meine Richtung. „Herr Schreiner!“, sagt meine Mutter und ich bin kurz davor, laut zu rufen „Ach deeeer!“, nur damit sie mich in Ruhe lassen. Aber ich habe echt keinen blassen Schimmer, von wem die alten Herrschaften da sprechen. „Herr Schreiner“, löst der Eltern-Dude auf, „dein früherer Oberstufenleiter“. „Ah, ja“, sage ich. Aber ehrlich, da klingelt nix.

„Unterricht hatte ich bei dem aber nie“, sage ich, siegesgewiss. „Doch! PPL!“, sagt meine Mutter. PPL, rattert mein angegriffenes Gehirn. Politische Paläontologie und Linguistik? Prähistorik mit pädagogischer Leitnote? Pupsen für pflaumenförmige Langnasen? Mir bleibt nicht anderes übrig: „Was ist PPL?“, frage ich resigniert. Ich hasse es, wenn meine Eltern, die mittlerweile über ein beeindruckend kurzes Kurzzeitgedächtnis verfügen, mich auf der langen Strecke weit hinter sich lassen. Was weiß ich, was vor 15 Jahren war!

Seit den Kindern ist mein Gedächtnis nicht mehr das, was es mal war

In der Zwischenzeit habe ich nämlich an fünf verschiedenen Orten studiert, Menschen aller Herren Länder getroffen, Praktika und Ausbildungen absolviert, Jobs begonnen, gekündigt, wieder begonnen und weitergemacht und vor allem: Zwei Kinder geboren. Und seitdem ist mein Gedächtnis irgendwie nicht mehr das, was es mal war. Vor allem nicht in Bezug auf unwichtige Details aus meiner Kindheit und Jugend.

PPL, das steht übrigens für Praktische Philosophie, als Ausweichkurs für Religionsunterricht. Und ich muss jetzt meinen 1-A-Partygesprächseinstieg überdenken, in dem ich so gern behaupte, ich hätte 13 Jahre katholischen Religionsunterricht aber so was von knallhart durchgezogen. Denn echt wahr: Das war eine ebenso knallharte Lüge, ich wusste es nur nicht mehr.

Tatsächlich habe ich mehr als nur die Befürchtung, dass mir so was häufiger passiert. Viele meiner Erinnerungen sind vielleicht gar nicht so echt, wie ich immer denke. Gute Partygespräche hin oder her. Aber es kommt noch schlimmer: Erst letztens wurde mir wie durch eine spontane Eingebung bewusst, dass ich meiner besten Freundin zum 30. Geburtstag vermutlich ein ziemlich ähnliches Geschenk gemacht habe, wie schon zu ihrem 20. (oder war’s der 25.? Wer weiß das schon so genau). Niemand von uns hat je ein Wort darüber verloren. Und ich danke meiner Freundin im Stillen, dass sie mich mein Gesicht wahren ließ.

Meine kinderlosen Freund*innen erinnern sich an alles!

Überhaupt, der Vergleich mit meinen kinderlosen Freund*innen! Sie erinnern sich einfach an alles! Wer damals in der 10. Klasse mit Schnurpsi zusammen war? Alle wissen es noch, außer mir. Ich kriege das Gesicht von Schnurpsi beim besten Willen nicht mehr rekonstruiert. Ich wühle durch mein Gehirn, aber da ist nichts. Ich erinnere mich auch nicht mehr daran, in welcher Klasse Schnurpsi war. Ich erinnere mich ja nicht mal mehr daran, wer alles in meiner eigenen Klasse war! Auch meinen alten Schulweg kann ich nur mit Mühe im Kopf nachgehen.

Frustrierend wird es dann, wenn ich merke, dass ich mich auch an mir wichtige Dinge nicht mehr besonders gut erinnern kann. 2009/2010 habe ich in Bordeaux studiert und nach knapp 10 Monaten dort kannte ich die Stadt ziemlich gut. 2016 war ich wieder dort, mit Mann und Kind. Ich wollte ihnen so gerne alle meine Lieblingsecken zeigen – bloß fand ich die nicht mehr! Die Wege, von denen ich dachte, sie wären mir in Fleisch und Blut übergegangen: Alle weg! Ausradiert aus meinem armseligen Gedächtnis.

Mein Gehirn setzt Prioritäten

Manchmal frage ich mich, wie ich überhaupt noch in der Lage bin, zu arbeiten. Aber huch, das klappt erstaunlich gut. Erstens mache ich mir Notizen. Viele Notizen. Und zweitens merke ich wohl hier am besten, was der eigentliche Grund für mein anscheinend schlechtes Gedächtnis ist: Mein Gehirn setzt wohl einfach Prioritäten. Als Mutter, erst recht als berufstätige Mutter, habe ich tagtäglich ganze To Do Listen im Kopf. Es handelt sich um sehr volle To Do Listen, bei denen wie von Zauberhand ein neuer Punkt erscheint, sobald ein erledigter weggestrichen wurde.

Kitabrot schmieren, Mittagessen fürs Büro vorbereiten, für den Geburtstag einkaufen, Ersatzklamottentasche fürs Räupchen packen, das Hübchen zum Schwimmkurs anmelden, Freundin auf ihre Nachricht antworten, zur Hochzeitsparty zusagen, Zahnarzttermin für mich machen, Impftermin für die Kinder, Biokiste bestellen, neue Sportschuhe fürs Hübchen kaufen. Dazu kommt die berufliche Seite: Rezensionsexemplar anfordern, Verlosung vorbereiten, Kunde X anrufen, Interview mit Kunde Y vorbereiten, Themen für Artikel Z recherchieren, zur Yoga-Ausbildung anmelden, bei Journalistin nachhaken, Weiterbildung organisieren, und so weiter, und so fort.

Manchmal denke ich, mein Kopf platzt

Manchmal denke ich, mein Kopf platzt bald, dabei bediene ich mich schon so vieler Dinge, die es etwas leichter machen. Analoge und digitale Kalender, Online Organizing Tools und händische To Do Listen helfen mir, nicht völlig den Überblick zu verlieren. Müsste ich nur meine eigenen Termine, Deadlines und Fristen koordinieren, würde das sicher noch ganz gut klappen. Als Mutter von zwei Kindern habe ich jedoch nicht nur meine Termine im Kopf, sondern auch immer die meiner Kinder. Und so viel sei allen Neu-Eltern verraten: Das werden nicht weniger, wenn die Kinder älter werden.

Dass mein Gedächtnis auf vielen Ebenen noch ziemlich gut funktioniert, stimmt mich etwas optimistisch. Denn das steigende Alter der Kinder bringt ja auch Positives mit sich: Mein Plan ist jetzt einfach, die süßen Kleinen möglichst schnell selbstständig zu kriegen. Also, zumindest so ein bisschen. Wenn der Sohn selbst an sein Parkour-Training denkt, muss Mama das nicht andauernd im Kopf haben. Und ab welchem Alter kann man eigentlich von seinen Kindern verlangen, Geburtstagsgeschenke für ihre Freunde selbst zu kaufen?

Ach ja, sagt nichts. Ich sehe schon, das dauert noch eine Weile. Trotzdem darf man sich doch wohl schon mal ein ganz kleines bisschen darauf freuen. Auf den Tag, wenn ich plötzlich nur noch an meine eigenen Pflichten denken muss. Oder alternativ: Auf den Tag, an dem auch endlich alle meine noch kinderlosen Freund*innen Kinder haben. Ich verspreche hoch und heilig: Ich werde euch niemals böse sein, wenn ihr mir das gleiche Buch zweimal schenkt. Ich tue dann einfach so, als hätte ich es nicht bemerkt – und lese es einfach noch mal. Ich wette, ich hatte den Inhalt eh schon vergessen.

Ein Kommentar zu „Ein Gedächtnis wie ein Schweizer Käse

  1. Das mit dem Verschwinden der Stadt-Erinnerungen kenne ich auch gut. Ich habe 1,5 Jahre in Bergisch Gladbach gewohnt und muss schon laaaange überlegen, welche Straße das nochmal war. Die Hausnummer bekomme ich gar nicht mehr hin; immerhin kenne ich noch den Namen des Mitbewohnerin 😀
    Naja, Hauptsache man erinnert sich an die wichtigen Dinge – unser Kopf ist auch wirklich echt voll.

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