Vorsorge: Sinnvoll oder nervig?

Der Wecker klingelt um halb sieben, ich bin müde, stehe trotzdem auf. Anziehen, Zähne putzen, Käsebrot schmieren, Hübchen wecken. Der Sohn ist mies gelaunt, noch müder als ich, mag nicht aufstehen, mag nicht frühstücken, will nur meckern. Heute muss das frühe Aufstehen sein, denn wir müssen zum Kinderarzt. Kurz vor oder kurz nach dem dritten Geburtstag ist die „U7a“ dran. Extra dafür früh aufzustehen, macht keinen Spaß. Dass das Hübchen gut entwickelt ist, sehe ich selbst. Aber die Vorsorge ist keine rein freiwillige Veranstaltung, wir müssen dahin, sonst kann es Ärger mit dem Jugendamt geben. Ist das einfach ätzend – oder vielleicht auch sinnvoll?

Um 8.10 Uhr sind wir beim Kinderarzt, um 9.15 Uhr verlassen wir die Praxis. Erst um 10 Uhr sitze ich am Schreibtisch und muss mich beeilen, um alles zu schaffen, was ich heute wegarbeiten muss. Der Kinder-TüV hat ganz schön viel Zeit gekostet. Und wozu eigentlich das Ganze? Nur damit mir eine Kinderärztin bestätigt, was ich ohnehin schon wusste: Das Hübchen ist prima entwickelt, insbesondere sprachlich enorm früh dran.

Ein paar kleine körperliche Defizite sind noch völlig im Rahmen und werden sich wahrscheinlich in den kommenden Jahren von allein zurück entwickeln. Komplimente an die Mutter gehen natürlich runter wie Öl: Ja, es stimmt, wir lesen viel vor, Fernsehen gibt es höchstens einmal die Woche eine halbe Stunde und die erstaunlich korrekte Grammatik des Hübchens ist bestimmt ein Ergebnis aus beiden Komponenten plus einer stabilen Sozialisierung.

Vorsorge-Steckbrief eines privilegierten Einzelkindes

Liest sich wie der Vorsorge-Steckbrief eines privilegierten Einzelkindes? Ja, genau so ist es. Während die Kinderärztin Lobgesänge auf mein ach-so-vorbildlich entwickeltes Hübchen singt, lese ich zwischen den Zeilen. „Guck mal, ich schenke dir jetzt ein Buch“, sagt die Kinderärztin in der Mitte der Untersuchung zum Hübchen und zu mir gewandt: „ich vermute, Sie haben eh eine halbe Bibliothek Zuhause, aber das Büchlein von der Stiftung Lesen kriegen alle Kinder bei der U. Ist natürlich vor allem für bildungsfernere Familien gedacht.“.

Währenddessen fülle ich den Fragebogen für Eltern aus. Wird mein Kind nachts mehrfach wach, schreit panisch und lässt sich nicht beruhigen? Nein. Hat mein Kind große Angst vor anderen Menschen? Nein. Oder geht es im Gegenteil bedenkenlos mit allen anderen Menschen mit? Ebenfalls nein. Solche und viele weitere, teils dramatischere Fragen, geben mir einen Eindruck davon, was theoretisch alles möglich ist.

Kinder-TüV: gecheckt und einsortiert

Auch die Liste mit Wörtern, die ich ankreuzen soll, bringt mich zum Nachdenken. Der Wortschatz des Hübchens ist viel, viel größer als das, was hier steht. Aber sicher gibt es auch Kinder, die diese einfachen Wörter noch niemals ausgesprochen haben. Und das sind dann nicht immer einfach Spätsprecher, sondern… tja, und genau hier fange ich an, mich etwas weniger über meinen vergeudeten Morgen zu ärgern. Natürlich fühlt es sich blöd an, zu einer Pflichtuntersuchung zu gehen.

Ich mag es nicht, dass mein Kind kategorisiert und in Schemata gepresst wird. Größe, Gewicht, Body-Mass-Index. „Ein kerniger Junge“, sagt unsere Kinderärztin und gehört damit zu den Guten. Sie akzeptiert, dass Kinder verschieden sind, von schmächtig bis kräftig. Wäre das anders, würde ich die Arztpraxis wechseln. Den Sehtest verweigert das Hübchen erst: Keine Lust. Die Kinderärztin ist besorgt: „Wenn er das nicht mitmacht, muss ich Sie zum Augenarzt schicken.“ – die Untersuchung der Sehfähigkeit ist verpflichtender Teil der Vorsorge. Schwänzen geht nicht. Am Ende erbarmt sich mein Kind und erspart mir einen weiteren Morgen Zeitverschwendung.

Sinnvolle Untersuchung oder staatliche Überwachungs-Maßnahme?

In Blogs und sozialen Netzwerken lese ich immer mal wieder Meinungen von Müttern und Vätern, die von dieser ganzen Kinder-Vermessung noch genervter sind als ich. Eine staatliche Überwachungs-Maßnahme sei das, Freiheitsberaubung und das Infragestellen und Entziehen der elterlichen Kompetenzen. Manche Eltern fühlen sich durch die Vorsorge gegängelt, befürchten die totale Überwachung und sehen sich im schlimmsten Fall sogar bedroht.

Wie ihr wisst, bin ich selbst ein großer Freund der Selbstbestimmung, auch und gerade, was das Kinderkriegen und Kinderhaben angeht. Ich setze mich zum Beispiel seit langem gegen die Gleichmacherei in der Geburtshilfe ein und empfinde bei diesem Thema tatsächlich ein Gefühl der Bedrohung: Will das System uns zur Geburt unserer Kinder zukünftig alle in große Kliniken zwingen, überwacht von Maschinen und ohne Chance auf einen selbstbestimmten Ablauf? Nee, da mache ich nicht mit. Ich will mich da nicht unterordnen, sondern selbst über meinen Körper bestimmen.

Prävention klingt doch ziemlich sinnvoll

Die Vorsorge-Untersuchung beim Kinderarzt geht da aber doch irgendwie in eine andere Richtung. Bei unserer Kinderärztin wird das Hübchen nicht in ein enges Schema gepresst und ich fühle mich auch nicht überwacht oder gegängelt. Da wird einmal gecheckt, ob so ungefähr alles stimmt mit dem Kind. Und auch, wenn ich selbst weiß, dass mit meinem Kind in der Tat soweit alles stimmt und ich mich ein bisschen über diesen großen Zeitaufwand ärgere, finde ich die Idee der Vorsorge doch sinnvoll.

Weil es eben auch Kinder gibt, die an irgendeiner Stelle Schwierigkeiten habe. Ich weiß, dass es auch Familien gibt, die weniger privilegiert sind als wir. Familien, die Pech im Leben haben oder aus schwierigen Verhältnissen stammen. Familien, in denen die Schwierigkeiten schon früh anfangen. Und kleine Schwierigkeiten gepaart mit weniger engagierten Eltern werden irgendwann zu großen Schwierigkeiten. Ich weiß nicht, wie hoch die Quote an bei Vorsorgeuntersuchungen entdeckten Missständen tatsächlich ist. Die Idee, präventiv anzusetzen, finde ich aber grundsätzlich eine gute.

Vielleicht ist die Vorsorgeuntersuchung für Menschen wie mich mal wieder eine gute Gelegenheit, uns selbst nicht so wichtig zu nehmen. Verschwende ich eben einmal im Jahr ein bisschen meiner Zeit, um der Kinderärztin zu zeigen, dass mein Kind schon einen Ball fangen kann. Damit bin ich ein Teil einer großen Masse an Eltern, die das ebenfalls tun müssen. Und für einige Kinder und Eltern ist das dann keine Zeitverschwendung, sondern ein wichtiger Wendepunkt, weil Dinge entdeckt werden, die sonst ignoriert würden.

10 Kommentare zu „Vorsorge: Sinnvoll oder nervig?

  1. Ich finde diese Seite echt nett 🙂
    Für mich als Mutter war es echt spannend mal so von anderen Mütter und ihre Erziehung zu erfahren.

  2. Pingback: Linktipps #10 - Meine Blogfunde im Oktober 2016 - Mama geht online

  3. Özlem

    Ich teile deine Meinung zu den Vorsorge-Untersuchungen. Mein Sohn ist nun 18 Monate alt. Wenn wir dann mal zum Arzt gehen und diese Untersuchungen durch geführt werden, ob er denn altersgerecht entwickelt ist usw., fühle ich mich danach eher bestätigt und auch sicher, dass alles gut ist. Klar kostet das Zeit und man könnte es sich sparen. Aber wie gesagt, fühle ich mich danach sicher und kann guten Gewissens behaupten, dass bei uns alle gut ist. Der keine Cousin ist nämlich gerade mal 40 Tage jünger. Dennoch sehen wir Eltern kleine aber feine Unterschiede in der Entwicklung. Man soll es ja nicht machen. Aber verglichen wird ja doch etwas. Da fängt der eine früher wie der andere zu laufen an. Oder er läuft stabiler oder rennt besser. Oder hat ein Wort besser drauf. Lauter so Kleinigkeiten. Da fragt man sich insgeheim doch manchmal, ob das so okay ist. Und wenn man dann mal beim Arzt war und feststellt, dass beide Jungs für ihr Alter super entwickelt sind, ist man dann doch froh, dass man wohl doch alles richtig macht.

    Auch die andere Sichtweise, dass diese Us gewissermaßen eine Kontrollfuntkion erfüllen und weniger privilegierten Familien helfen können, ist absolut korrekt!
    Es gibt leider immer noch Familien, wo die Kinder nicht vernünftig gefördert oder vielleicht sogar schlecht behandelt werden. Zum Glück ist das eher ein kleiner Anteil. Aber es ist doch gut, dass man hier eine Möglichkeit hat, frühzeitig einzugreifen und den Kleinen zu helfen!

    In meinen Augen auf jeden Fall eine sinnvolle Einrichtung, die man beibehalten sollte.

    Übrigens: sehr nett und süß geschriebener Blog. Macht Spaß zu lesen!

    • Danke für dein nettes Lob!

      Ich persönlich vergleiche meinen Sohn eher wenig mit anderen Kindern, aber es stimmt schon, dass es schön ist, zu hören, dass das Kind super entwickelt ist. Ich finde die Vorsorge nicht schlimm – und das Hübchen freut sich immer auf die Gummibären, die er danach kriegt. 😉

  4. Ich selbst glaube, dass die Prävention sehr nützlich ist. Aber den Termin für die Untersuchung sollten sich die Eltern aussuchen. Es ist gut die Entwicklung des Kindes zu prüfen aber wie schon gesagt, ist nicht immer einfach es in einem gegebenen Augenblick zu machen.

  5. Mone

    Ich persönlich finde es ziemlich nervig, weil es in unserem Bundesland Pflicht ist. Und ich möchte gerne selbst entscheiden und das Kind mitentscheiden lassen, ob es von einem fremden Menschen untersucht und angefasst werden möchte. Gerade bei im Baby fühlte ich mich jedes mal, als würde ich das gerade frisch angekommene Baby an jemanden ausliefern. Es als Pflicht zu haben ist für mich grenzüberschreitend. Es geht immerhin um den Körper und die Grenzen des Kindes.
    Außerdem denke ich, dass solche Zwänge bezüglich Gesundheitsprävention nur zu Verunsicherungen führt und uns Menschen völlig das eigene Gefühl für die Gesundheit und Selbstfürsorge abhanden konnt. Uns wird suggeriert wir würden Ärzte, Kontrollen, Medikamente und Impfungen im gesund zu bleiben. Keine Frage, WENN wir ernsthaft krank sind, dann ist ein Fachmann gut, aber viele (insbesondere Eltern) sitzen wirklich wegen jedem Pups beim Kinderarzt, weil uns nur noch Ängste vermittelt werden. Wir haben völlig verlernt mit normalen Krankheiten umzugehen, insbesondere Kinderkrankheiten. Diese Entwicklung gefällt mir nicht besonders. Vorallem der Medikamentenmissbrauch, der bereites im frühen Kindesalter beginnt.

    • Anica

      Es gibt sehr viele vernachlässigte Kinder, nur die sind für uns unsichtbar, leben zurück gezogen, werden vorm Fernseher geparkt, kommen kaum raus, wissen gar nicht was sie auf einem Spielplatz machen sollen. Ich arbeite im Gesundheitswesen und sehe sie deshalb im Beruf, diese Minderheit braucht Hilfe. Aktiv wird sie aber nicht von deren Eltern eingefordert. Die U-Untersuchungen sind nervig keine Frage, aber wenn sie helfen einige Kindern zu fördern, vor der Verwahrlosung zu retten dann ist es völlig gerechtfertigt dass es eine Pflicht dazu gibt.

  6. Martin Gries

    Ich finde es eine unmenschliche Schweinerei das Eltern in Deutschland nicht frei über die Gesundheit und Arztbesuche ihrer Kinder entscheiden dürfen. Eltern sollen aus freien Stücken ihre Kinder zu den U-Untersuchungen bringen, weil ihnen das Wohl ihrer Kinder am Herzen liegt, und nicht weil der Staat das will. Ich habe schon der BZAG – Kindergesundheit und dem Jugend und Sozialamt Frankfurt (Main) geschrieben, das ich den Kinderarztbesuchszwang in Deutschland anprangere. Ich fordere: Kontrollbesuche durch das Jugendamt / Gesundheitsamt im falle einer verpassten oder nicht gemachten U-Untersuchung, sowie schriftliche Aufforderungen die Untersuchung nachzuholen (ausgenommen Erinnerungsbriefe) sofort zu stoppen!!!

    • Milan Höfer

      Hauptsache ich ich ich. gesellschaftliche Solidarität mit tausenden von vernachlässigten und misshandelten Kindern Fehlanzeige.
      Sie zu schützen ist Aufgabe der Gemeinschaft.
      Immer wieder schade, dass manche Menschen so unglaublich egoistisch und gesellschaftsunfähig sind…..

      Ich fordere, dass das Jugendamt auf jeden Fall weiter Kontrollen durchführt und zur Not auch höhe Geldstrafen verhängt.
      Take one for the Team!

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