Aufholprogramm

Eigentlich habe ich gar keine Zeit zum Bloggen, aber ich bin gerade so wütend und das muss irgendwo hin. Außerdem tippen sich wütende Texte erfahrungsgemäß am schnellsten. Keine Sorge, es geht nicht um mich und nicht um euch. Meine Wut richtet sich – wie schon fast gewohnheitsmäßig – gegen die Bundesregierung, die uns offenbar einfach auf lange Sicht nur noch verarschen will.

Mein aktuelles Wutwort lautet: AUFHOLPROGRAMM. Das hat die Bundesregierung nämlich heute für Kinder und Jugendliche beschlossen. Und wenn ich dieses Wort nur höre, bekomme ich direkt die gleichen Assoziationen wie die Journalistin Lara Fritzsche, die auf Twitter schreibt:

Dass Kinder und Jugendliche nach diesem Corona-Höllenjahr „aufholen“ müssen, liegt jawohl nicht an ihnen selbst. Sondern an einer Bildungspolitik, die schon vor Corona keine Gerechtigkeit kannte und deren Versäumnisse in diesem krassen Jahr umso deutlicher wurden. Hinzu kam, dass Schülerinnen und Schüler im Distanzunterricht mehr noch als sonst vom Engagement der jeweiligen Lehrerinnen und Lehrer abhängig waren.

Bildungsungerechtigkeit enlarvt

Die vielen Erfahrungsberichte, die ich von Freunden, Bekannten und vor allem auch über Blogs und Social Media bekommen habe, ließen mich oft sprachlos zurück. Ja, an manchen Schulen war die Lernkurve steil, die Digitalisierung schritt voran und das Lehrpersonal war sehr aktiv. Andere Kinder jedoch haben in vielen Monaten Distanzunterricht so ungefähr gar nix von ihren Lehrer*innen gehört – aber jede Menge Arbeitsblätter um die Ohren geschmissen bekommen.

Nein, das hier soll kein Lehrerbashing werden. Es soll nur zeigen, wie ungleich die Lage an den verschiedenen Schulen ist. Und wie unzureichend der Unterricht für viel zu viele Schülerinnen und Schüler war. Die Politik hat das offenbar die ganze Zeit gesehen – aber nichts gemacht. Bis jetzt.

Doppelte Bestrafung

Denn jetzt kommt ja das „Aufholprogramm“. Das soll zum Beispiel Sommercamps und Nachhilfeangebote beinhalten, mit denen die abgehängten Schülerinnen und Schüler wieder den Anschluss kriegen sollen. Nachdem sie im Sommer mit schlechten Noten für ein quasi nicht stattgefundenes Schuljahr abgestraft worden sind. Was ich nämlich auch immer wieder lese: Lehrerinnen und Lehrer bemängeln aktuell gern die „Lernlücken“ ihrer Schützlinge und geben dann entsprechende Noten.

Ja, ich kann mir denken, dass die Lehrkräfte das nicht unbedingt gern machen. Und deswegen geht auch hier mein Ruf an die Politik: Was zur Hölle stimmt nicht mit euch?! Warum werden Kinder nun mit schlechten Noten bestraft, obwohl sie ein ganzes Jahr so tapfer durchgehalten haben? Ohne Hobbys, ohne Sozialkontakte, ohne Ausgleich zum langweiligen und ermüdenden Heimunterricht.

Beste Burnout-Prophlyaxe: Einfach weiterarbeiten

Als seien die schlechten Noten nicht Strafe genug, sollen die Kinder nun auch noch mit Nachhilfe nachsitzen. In von der Bundesregierung finanzierten Straflagern, äh, Sommercamps. Ich höre die Teenies schon jubeln! Aber vielleicht kommt ja dann wenigstens das mobile Impfteam vorbei und bereitet die Kids schon mal für den regulären Schulbetrieb nach den Ferien vor. Denn nach dem Lernen ist vor dem Lernen, ist klar.

Ich bin mir nicht sicher, ob Powernachhilfe den gebeutelten Kindern nach diesem Ausnahmejahr wirklich helfen wird. Was genau empfehlen eigentlich Therapeuten ihren Burnout-Patienten? „Sagen Sie Ihren Urlaub ab. Sie müssen mehr arbeiten, damit Sie nicht den Anschluss verlieren!“ – so was in etwa? Haha, als Erwachsener weiß man ja, dass man nach großer Anstrengung und einer existenziellen Krise eher mal ne Pause braucht. Aber das gilt ja bestimmt nicht für Kinder. Die sind ja noch jung und so viel belastbarer.

Ein paar alternative Ideen

OK, Ironie aus. Ich bin wirklich nur noch sprachlos angesichts einer solchen respektlosen Politik. Statt Nachhilfe und „Aufholen“ wäre das hier vielleicht einfach mal eine Idee:

  • Keine Noten auf dem Sommerzeugnis.
  • Erholung für alle in den Ferien.
  • Niedriginzidenzstrategie für die gesamte Gesellschaft, damit ungeimpfte Kinder nach den Ferien wieder sicher in die Schule gehen können.
  • Und danach dann sanftes Zurückführen in normale Unterrichtsstrukturen.
  • Mehr Personal an den Schulen.
  • Kleinere Klassen und Lerngruppen, in denen individueller und besser gelernt werden kann.
  • Nachsicht und Rücksicht statt Leistungserwartung und Autorität.

Kinder sind auch nur Menschen. Behandelt sie doch bitte auch so.

2 Kommentare zu „Aufholprogramm

  1. Sonja

    Diesmal bin ich (als Grundschullehrerin) voll bei dir, Sophie! Wir bräuchten in den kommenden Jahren Förderstunden pro Klasse, so dass der (Klassen-) lehrer in Ruhe und in Kleingruppen evtl. fehlende Kompetenzen nachholen kann. Oder auch einfach einen Klassenteiler von 20 in der GS. Aber das würde ja was kosten?!
    Diese „Lernbrücken“ wie sie in BaWü heißen, sind eine Katstrophe und eine Unverschämtheit gegenüber allen Beteiligten.

    Eins muss ich allerdings sagen…in BaWü werden zumindest die zwei Noten, die ein Zweitklässler am Schuljahresende im Zeugnis eigentlich bekommt, ausgesetzt.

  2. Gis

    Ich bin ganz bei Dir, Sophie!!! Und das sage ich als Mutter eines 2.- und 4. Klässlers, als Schwester und Freundin von Lehrpersonal unterschiedlichster Schularten und als Erzieherin.
    „Die Kinder sind uns wichtig“ – ist nur ein Lippenbekenntnis, dem leider keine sinnvollen Taten folgen.
    Erschreckend, dass es eine Pandemie braucht, um die jahrzehntelangen Bildungsversäumnisse aufzuzeigen, und bitter, dass immer noch nichts passiert.

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