Von widerstandsfähigen Pflanzen und Kindern

Wir haben eine Pflanze. Eine einzige. Sie ist mittlerweile locker so groß wie ich, also etwa 1,70 Meter. Als ich sie gekauft habe, war sie vielleicht halb so groß, wenn überhaupt. Dass es diese Pflanze noch gibt, ist eigentlich ein Mysterium.

Bei uns hat nämlich eigentlich noch nie irgendetwas Grünes länger als eine Woche überlebt. Außer besonders frische holländische Schnittblumen, aber die leben ja eigentlich gar nicht mehr richtig, selbst zu dem Zeitpunkt, da man sie kauft.

Unsere 1,70-Pflanze jedenfalls ist wirklich ein verrücktes Schätzchen. Wir gießen sie fast nie, weil wir einfach keinen Kopf für unsere grünen Freunde haben. Aber jedes Mal, wenn wir sie gießen, kriegt sie einfach sofort ein neues Blatt, ganz so als würde sie uns laut ins Gesicht lachen: Haha, ihr kriegt mich nicht kaputt!

Und vor etwas über einem Jahr passierte sogar etwas noch erstaunlicheres: Sie produzierte einen Ableger. Einfach so. Und auch dieser kriegt immer ein neues Blatt, sobald man ihn gießt. Ich tat also vor einiger Zeit etwas für mich ganz Außergewöhnliches und topfte den Ableger um. Seitdem wächst er in einem (mittlerweile viel zu kleinen) extra Pott vor sich hin. Also, jedenfalls immer dann, wenn ihn mal wieder jemand gießt.

Die Pflanze bleibt!

Ich mag mir gar nicht ausmalen, wie groß die beiden Pflanzen schon wären, wenn wir sie häufiger gießen würden. Vermutlich hätten sie schon die Herrschaft über unser Zuhause übernommen und wir würden uns nun verängstigt im hinterletzten Zimmer verbarrikadieren.

In unserer neuen Wohnung haben wir nun eigentlich keinen so richtig passenden Platz mehr für das 1,70-Monstrum. Der Mann wollte die Pflanze deswegen schon rausschmeißen. Aber ich habe mich für sie eingesetzt. Weil so viel Resistenz doch irgendwie belohnt werden muss. Oder, wenn man es umdreht: So viel Renitenz, einfach nicht sterben zu wollen, dadurch bestraft gehört, bei uns Pflanzenvernichtern wohnen bleiben zu müssen.

Die Widerstandsfähigkeit von Pflanzen – und Kindern

Jedenfalls, ihr ahnt es bestimmt schon, weil das hier ja ein Blog ist, in dem es normalerweise um Kinder und Familie geht, musste ich heute, als ich mir die erstaunliche Widerstandsfähigkeit dieser erstaunlichen Pflanze ins Gedächtnis rief, auch ein bisschen an meine Kinder denken. Und ganz besonders ans Hübchen. Weil ich sehr dankbar dafür bin, dass auch er eine ziemlich große Widerstandsfähigkeit beweist und seit jeher bewiesen hat.

Weil gerade das erste Kind doch ganz schön was aushalten muss. Weil man als Eltern doch erst mal keine Ahnung hat, was man da eigentlich die ganze Zeit macht. Was ja ganz oft ganz super ist: Mütterliche und väterliche Intuition ist schließlich ganz im Allgemeinen ein Riesending und ganz oft das Mittel der Wahl! Aber wenn wir ehrlich sind, lässt uns unsere Intuition dann doch ziemlich oft im Stich – oder wir sind selbst so blöd und bedenken sie unsererseits mit unserer kalten Kehrseite.

Die ersten Kinder leiden besonders unter ihren Eltern

Klar, im Rückblick hätte ich in der Hübchen-Erziehung gerne so einiges anders gemacht, weiß aber auch, dass viele mir heute als Fehler erscheinende Dinge meiner damaligen Situation geschuldet waren. Heute kann ich mit dem Räupchen vieles anders machen – damals war es mir mitunter einfach nicht möglich, oder eben nur durch mir damals viel zu groß erscheinende Einschnitte in mein persönliches Fortkommen. Und auch mein heutiges Wissen und meine Erfahrung tun natürlich einiges dazu, dass ich mich jetzt anders verhalte als noch vor einigen Jahren.

Die ersten Kinder leiden also bestimmt immer besonders unter ihren Eltern. Zumindest hier ist das ganz sicher der Fall. Das Hübchen leidet ohnehin im Besonderen unter einer oftmals nicht besonders belastbaren Mutter, die viel zu aufbrausend ist, Lautstärke nicht gut verträgt und ziemlich häufig einfach zurück schreit, anstatt kaltes Wasser über ihre Handgelenke fließen zu lassen. Das Blöde ist ja ganz generell, dass erste Kinder immer die ersten bleiben. Gut möglich, dass ich in drei Jahren, wenn das Räupchen in die epische Phase der Autonomie (manche nennen es Trotz) eintritt, bei jedem Wutanfall nur denke: Scheiß drauf, geht vorbei, wo ist die Schokolade?

Jetzt gerade aber habe ich das Gefühl, für immer in der elterlichen Vorhölle gefangen zu sein, mit einem Vierjährigen, der schon morgens um sieben die Launen-Latte reichlich tief hängt. Und mein armes Hübchen kriegt die schlechte Laune, die er verbreitet, leider viel zu oft eins zu eins von mir gespiegelt. Manchmal denke ich, ich bin der theoretische Horror einer jeden Erziehungsberaterin, die sich für bindungsorientiertes „Beziehung statt Erziehung“ engagiert.

Und trotzdem ist da überall Liebe

Aber dann liege ich abends trotzdem mit meinem großen Jungen im Bett, lese ihm eine Findus-Geschichte vor, das ganze lange Buch, und danach kuscheln wir und mögen uns so sehr, dass ich meinen Glauben an die kindliche Unerschütterlichkeit wirklich nicht verlieren kann. Unsere Bindung ist nämlich stark, auch wenn ich zu oft die Fassung verliere. Auch wenn mein zartes Seelenpflänzchen der rebellischen Hübchen-Sukkulente ganz häufig einfach nichts mehr entgegenzusetzen hat, erst recht nicht gute Laune.

Trotz mangelnder mütterlicher Geduld, trotz früher Kinderbetreuung, trotz weiterer enger Vertrauenspersonen und vor allem obwohl ich dem Hübchen sehr oft aufzeigen muss, wo meine persönlichen Grenzen liegen – die, wie ich vermute, sehr viel weiter vorne liegen als bei den meisten anderen Müttern.

Was wir in den letzten vier Jahren geschaffen haben, ist vermutlich das, was auch Bindungstheoretiker Urvertrauen nennen. Ich bin mir nämlich sehr, sehr sicher, dass das Hübchen trotz all meiner mütterlichen Unzulänglichkeiten weiß, dass ich ihn liebe – immer und uneingeschränkt. Weil ich es ihm mit meinen Worten, meiner körperlichen Zuneigung und auf viele andere Arten täglich zeige. Wir streiten und wir vertragen uns, jeden Tag aufs neue.

Und um die Pflanzenmetapher nun doch endlich noch mal zu nutzen: Es ist, als würde dem Hübchen einfach jedes Mal ein neues Blatt wachsen, ganz egal wie blöd seine Mutter, also ich, sich mal wieder verhält.

Erstkinder verzeihen viel

Und vermutlich ist das auch der Grund, warum ich mit vielen Theoretikern aus dem Bereich der bindungsorientierten Elternschaft auf Kriegsfuß stehe. Da heißt es nämlich zu oft ganz dogmatisch: Wenn du dies oder jenes tust, leidet die Beziehung zum Kind sofort und unwiederbringlich. Meine Erfahrung ist da nämlich völlig gegenteilig: Gerade Erstkinder sind völlig in der Lage, sehr viel zu verzeihen. Und ich glaube sogar daran, dass die Bindung durch Konflikte noch wachsen kann. Und dass es für Kinder durchaus hilfreich ist, die individuellen Grenzen der Eltern zu kennen und achten zu lernen.

Keine Frage bemühe ich mich weiterhin täglich, nicht ungerecht zu sein, mein Kind so zu akzeptieren wie es nun mal ist und entwicklungsbedingte Schwierigkeiten möglichst großzügig zu meistern. Aber auch wenn es wie so oft mal wieder gar nicht klappt: Ich habe aufgehört, mich dafür zu verurteilen. Ich mache mir keine Sorgen mehr, dass mein Kind mich später hassen oder mit 13 der jüngste Crack-Dealer seiner Schule wird.

Mein Hübchen ist nämlich tatsächlich ein bisschen wie unsere ultra-resistente Pflanze. Nicht kleinzukriegen mit seinem starken Willen und seiner großen Liebe. Mein Yoga-Lehrer würde jetzt sagen: Ist ja klar, dass ihr aneinander wachst, schließlich suchen die Kinder sich ihre Eltern ja aus. Und auch wenn ich mit esoterischem Gedankengut echt nix am Hut habe: Manchmal denke ich, dass Hübchen wurde mir tatsächlich vom Universum aufgehalst, damit ich verdammt noch mal endlich ein bisschen Geduld lerne. Und damit zumindest eine andere Person mich, meine cholerische Ader und meinen Dickkopf vernünftig spiegelt. Denn ja, irgendwoher scheint das Kind das ja zu haben. Verflucht.

Hier fliegt so bald jedenfalls keiner raus. Keine Pflanze und erst recht kein Kind. Denn wer sich so wacker hält, darf bleiben, wachsen und gedeihen. Mal sehen, welches unserer Kinder die 1,70 Meter knackt. Das Räupchen nicht, sagt der Kinderarzt mit einem Blick in seine schlauen Tabellen. 1,68 Meter wären Maximum bei der mickrigen Größe seiner Eltern. Aber Mensch, das wäre immerhin größer als der Opa! Dafür hat die Pflanze nur acht Gießkannen gebraucht!

Ein Kommentar zu „Von widerstandsfähigen Pflanzen und Kindern

  1. Esperanza

    Hallo!

    Erstmals meld ich mich hier auf diesem tollen Blog mal zu Wort!
    Danke für diesen Post den ich gerade heute so dringend gebrauchen kann.

    Heut morgen verlor ich auch meine nerven weil die kleine so viel weinte. Nur um ein paar Stunden später mit furchtbar schlechten Gewissen zu merken, dass sie Fieber bekommen hatte und einfach krank geworden ist. Der Große bekam meine Laune natürlich auch noch ab und ich versuchte mein Gewissen zu beruhigen indem ich die kleine 2 Stunden in der trage durch die Wohnung trug und mit dem Großen noch viel Karten spielte.

    Ach wie kenn ich dass auch jeden Tag aufs neue, dass ich mich bemühen möchte immer ruhig zu bleiben und vor allem optimistisch. Beide Kinder sind Frühaufsteher und der/die erste weckt uns meist um kurz nach fünf Uhr. Und dass schon seit Monaten! Gerade morgens ist es täglich eine Herausforderung für mich. Nichtsdestotrotz denk ich ähnlich wie du….am Abend wenn wir Buch ansehen oder auch zwischendurch oft, spüre ich dieses enge Band zwischen mir und den Kindern und hoff so sehr dass sie immer gern an ihre Kindheit zurück denken und sich geborgen fühlen bei ihrer „authentischen“ (so entschuldig ich es wenn ich meiner Ungeduld und überreaktion freien Lauf lass ;)) Mutter!

    Freu mich immer so über deinen Beiträge und find mich sehr oft darin wieder!
    Großes Lob und Danke!
    Gute Nacht!

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